Chronik einer Endomorphose, 25. Juni 2000

Welche tiefgreifenden Entscheidungen für einzelne Menschen wird die Entstehung von hybriden Mensch-Maschinenwesen im laufenden Jahrhundert mit sich bringen?

Die Zeitungen schreiben bereits über die Abschaffung des Menschen durch Computer und Roboter. Zeitpläne hierfür werden bereits mit einer Prognoseschärfe von Jahrzehnten aufgestellt.

Was aber bedeutet dies für einen dreißigjährigen Menschen? Worauf können wir uns bereits jetzt seelisch vorbereiten?

Vor allem die Unsterblichkeit. Quasi. Der Medizin gelingt es zunehmend menschliche Organe zu synthetisieren. Es ist nur eine Frage Zeit, bis das Gehirn aus dem Schädeln genommen werden kann und von einer Apparatur mit einer Nährlösung am leben erhalten werden kann. Oder aber Gentechniker finden Wege die Lebenszeit durch Genmanipulation erheblich zu erhöhen. Früher oder später wird das eine oder andere funktionieren.

Das konfrontiert eine Einzelperson dann mit der Frage, ob sie ewig leben will oder aber zumindest sehr viel länger als jetzt. Das Ganze könnte vielleicht als Verwaltungsakt gestaltet sein. Man müßte auf einer Behörde einen Antrag stellen. Bei einer Genehmigung wird man dann in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort findet die Operation statt. Das Gehirn kommt in eine Schüssel und wird über künstliche Sinnesorgane an das Internet angeschlossen. Oder aber der Körper wird durch künstliche Organe ersetzt. Man hat statt einen biologischen Körper einen Roboter unterm Hals. Zumindest im ersten Fall kann es aber auch sein, daß man ein Gefangener wird. Ein lebender Untoter, ein ruheloser Geist der nach Erlösung ruft. Denn als Gehirn in der Schüssel könnte es technisch unmöglich sein, Selbstmord zu begehen. Man könnte tatsächlich zu einem ewigen Leben verdammt sein. Und irgendwelche Menschen oder Roboter könnten einen von Außen ständig manipulieren. Man würde eventuell das Leben einer Katze leben, welche mit aufgeschnittenen Schädel in eine Fixierungsapparatur eingespannt ist, um an ihr Experimente zu Herstellung neuer Kosmetika durchzuführen. Diese Gefahr bestünde.

Die Entscheidung sich einschüsseln zu lassen wäre aber auch ein Abschied von der realen Welt. Adieu zu echtem Sport und einem Spaziergang durch einen regenfrischen deutschen Buchenwald. Alternativ wären der körperliche Zerfall und der Tod zu haben.

Keine einfache Entscheidung, die vielleicht schon in wenigen Jahrzehnten für manche Menschen - zuerst Behinderte und sterbenskranke - aktuell sein könnte.

Vielleicht aber kommt es doch nicht so weit. Angenommen, die Evolution setzt zukünftig vor allem auf der Ebene von Wirtschaftsunternehmen. Diese müssen natürlich sterblich sein, weil sonst die gesamte Wirtschaft nicht als genetischer Algorithmus funktionieren könnte. Wenn also nun ein Unternehmen sterben muss, was soll dann mit den es konstituierenden Menschen oder hybriden Wesen passieren?

In der biologischen Natur kommt es ja auch nicht vor, daß die Zellen eines toten Tieres sich auf den Weg machen um in anderen Tieren oder Pflanzen weiterzuleben. Dies wäre technisch sicherlich möglich, bringt aber anscheinend niemanden einen Vorteil. Also, könnte es sein, daß der Tod von Wirtschaftsunternehmen zukünftig auch gleichzeitig den Tod aller daran beteiligten Zellen=Menschen=Maschinen bedingt? Wenn man an der Börse die Kurse seinen Arbeitgebers sinken sieht, kann man dann schon einmal besser sein Testament machen?

So abwegig ist dies nun wirklich nicht. Betrachten wir uns die Dritte Welt, so läuft dort eigentlich ähnliches ab. Gehen etwa in einem armen afrikanischen Land Industrien zugrunde und werden dadruch Leute arbeitslos, so haben diese Leute eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit bald zu sterben. Einfach weil sie kein Geld für Essen oder eine medizinische Versorgung haben. Und daran haben wir uns in Westeuropa längst gewöhnt weil es uns ja nicht unmittelbar betrifft.

Vielleicht stellt man solche Leute dann aber auch vor die Wahl, sich mit ihrem Gehirn einschüsseln zu lassen und sich somit als billiger Computer zu verkaufen.

Sicherlich werden die kommenden Jahrzehnte oder Jahrundert einzelne Menschen in verschiedenen Variationen vor die Frage stellen, wie sie am besten ihren wirtschaftliche Wert gegenüber Unternehmen werden rechtfertigen können.

Bergbaukongress in Polen