Sammlung von Alltäglichkeiten
Erlebtes und Gehörtes

Eins, zwei, drei im Sauseschritt;
läuft die Zeit, wir laufen mit.
Wilhelm Busch

   
[1] Selbsterkenntnis: Vor längerer Zeit, vielleicht in den 1980er Jahren, sah ich einmal einen Fernsehbeitrag über die merkwürdige Etikette die das Verhalten japanischer Führungskräfte prägt. Da gibt es zum Beispiel die Regel, dass bei Sitzungen niemand es wagt, an einem Getränk zu nippen oder etwas zu essen bevor nicht der Chef es tat. Es ist stets der Chef der Essen oder Trinken eröffnet, selbst wenn es nur um Kekse und Tee geht. Ich fand das damals fast unglaublich und staunte über die Japaner wie über einen Zeitreisenden aus der Ritterzeit. Jahre später nahm ich selbst an mehreren unternehmensinternen, großen Sitzungen teil. Es war mir über lange Zeit hinweg gar nicht aufgefallen, dass auch dort kein einziger Ingenieur es wagte nach seinem Kaffee zu greifen oder ein belegtes Brötchen von einen kleinen Büffettisch zu nehmen bevor nicht der vorsitzende Direktor das Zeichen dazu gegeben hatte. Erst als ich in einer ganz anderen Situation über die alte Reportage über japanische Manager redete fiel mir die Parallele auf. Manchmal erkennt man sich eben vielleicht erst im Spiegelbild der Karikatur. (1997)    
[2] Hauptsache billig: Ich war noch Schüler und alleine mit einem Schulkumpel unterwegs auf Radtour durch Südengland. Irgendwo an der Grenze von Devon nach Cornwall kauften wir in einem kleinen Krämerladen für unser Abendessen auf dem Zeltplatz ein. Aus irgend einem Grund war zwischen uns beiden damals ein unausgesprochener Wettkampf entbrannt, wer denn mit weniger Geld pro Tag auskäme. Ich glaube, inklusive Campingplatzgebühren lagen wir damals bei rund 5 englischen Pfund, was heute vielleicht 15 bis 20 Euro entspricht. Na ja, der Krämerladen hatte auf jeden Fall unglaublich billiges Hackfleisch im Angebot und da wir selten Fleisch aßen deckten wir uns damit gut ein. Als wir mit unserem spärlichen Englisch die Verkäuferin fragten, ob man das Fleisch denn braten oder kochen müsse guckte die uns verständnislos an und erzählte irgend etwas davon, dass dies doch eigentlich egal sei. Wir aßen abends eine zünftige Pfanne Haschee mit Zwiebeln und freuten uns über das Schnäppchen. Kurz vor dem Einschlafen lernte ich abends immer noch einige Vokabeln und nahm mir für diesen Tag die Aufschrift des Hackfleischbeutels vor. Auf diese Weise lernte ich das englische Wort für "Haustier" kennen und fortan wusste ich, dass pet-food Tierfutter war. (1983)    
[3] Der faule Steiger: Während verschiedener Praktika auf Bergwerken und auf einer Werft lernte ich ganz verschiedene Typen von Aufsichtspersonen kennen. Da gab es zupackende Steiger und Vorarbeiter die ihren Mitarbeitern stets zur Hand gingen, wenn es denn nötig war. Aber da gab es auch einen Typus von Steiger, der seelenruhig seinen Untergebenen zuschauen konnte, wie diese schweißtreibende Knochenarbeit verrichteten. Ein solcher Steiger muss wohl meine fragenden Blicke ob seines Handelns erkannt haben und erklärte mir daraufhin den Grund seiner vermeintlichen Faulheit. Es sei eine bekannte Tatsache, dass man beim Zupacken schnell den Blick für das Ganze verliere. Ist man etwa aktiv dabei, gemeinsam mit drei weiteren Kollegen, schwere Stahlteile zu einem Gerüst zusammenzufügen, so entgeht es schnell dem eigenen Blick, dass vielleicht die richtigen Schrauben noch fehlen, dass das provisorische Gerüst kurz vor dem Zusammenbruch steht oder das letzte Teil welches man einfügen will nicht die richtigen Maße hat. Solche Dinge entgehen einem aber nicht so schnell, wenn man ruhig zuschaut. Man müsse sein eigenes schlechtes Gewissen überwinden und zum Wohle einer sicheren und guten Arbeit auf ein aktives Helfen verzichten, so der Steiger. Diese Erfahrung konnte ich später mehrfach am eigenen Leibe nachempfinden, nicht zuletzt wenn es um private Umzüge und das Schleppen schwerer Möbel in engen Treppenhäusern ging. (um 1989)    
[4] Der nervöse Bohrhauer: Während eines Praktikums auf einem inzwischen längst stillgelegten Erzbergwerk schickte mich der Steiger für eine Schicht zu einem Streckenvortrieb. Dort arbeitete ein älterer Bergmann mit einem mobilen Bohrgerät um Sprengbohrlöcher in den Fels zu bohren. Eine mühselige und lärmende Arbeit, die gerade wegen ihrer Monotonie ein hohes Maß an Konzentration verlangt. Ich wunderte mich stark über die zittrige Hand des Arbeiters, seine nervöse und unsichere Art und seine ablehnende Verschwiegenheit mir gegenüber. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Bergmann kein besonders guter Bohrer sei. Nach der Schicht klärte mich der Steiger über den Sinn dieses Tages auf. Es gebe Personen, die man dadurch nervös machen könne, dass man ihnen zugucke. Dann gelinge diesen Personen auch ihre Arbeit nicht mehr gut. Der Bohrhauer, mit dem ich die Schicht verbracht hatte, war genau so ein Mensch. Er sei der erfahrenste und beste Bohrer auf der ganzen Schicht. Man dürfe ihm nur nicht zugucken. Diese Lektion, so der Steiger, solle ich mir gut merken. (um 1992)    
[5] Chlor spezial: Während eines Türkeiaufenthaltes liessen wir uns auf der Suche nach einem einfachen aber guten Mittagsrestaurant von einem Wirt in seine Gasstätte locken. Sein Restaurant sei besonders sauber und vor allem sein Wasser sei das beste in der Stadt. So liessen wir uns überreden. Und tatsächlich war das Restaurant sauber, das Essen gut und preiswert. Das Tafelwasser aber welches uns serviert wurde roch und schmeckte agressiv nach Chlor. Auf unser verdutztes Fragen hin, ob dies denn das gepriesene Wasser sei erkärte uns der Wirt, dass er doch versprochen hatte, über das beste Wasser in der ganzen Stadt zu verfügen! Zur Probe kostete er selbst einen Schluck und bekräftigte durch eine zufriedene Miene seine Wertschätzung für das Getränk. So unterschiedlich können die Geschmäcker sein und man sollte eigene Werte nur vorsichtig in fremde Kulturen zu übertagen! (1992)    
[6] Die Kündigung: Der Bautrupp eines streng geführten Familienunternehmens hatte den Auftrag in einer Schrebergartenkolonie einen Weg oder ein Gebäude auszubessern. Um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren kam die Gattin des Chefs auf die Baustelle und sah dort einen Arbeiter mit Schubkarre lässig auf seiner Schippe lehnend die Arbeiten beobachten. Als dieser Mensch nach 20 Minuten noch in der gleichen Pose verharrte fauchte die Chefin ihn an, er soll sich im Personalbüro seine Papier abholen, das sei es gewesen. Dies probierte der vermeintliche Mitarbeiter denn auch und noch heute wird davon erzählt, welche Verwirrung der Schrebergärtner in der Personalabteilung erzeugte, als man dort lange aber vergeblich nach seinen Papieren suchte. (vor 1997)    
[7] Gut versichert: Auf den Produktionsanlagen eines großen Industrieunternehmens befanden sich sehr viele Gurtförderanlagen. Hunderte Meter lange Gurte mit einer Breite von gut 1,5 m bewegten dort Schüttgüter mit einer Geschwindigkeit von einigen Metern pro Sekunde. Das Betreten des Betriebsgeländes war für Unbefugte selbstverständlich striktestens untersagt aber nicht unmöglich. So kam es, dass an einem schönen Sonntag eine Aufsichtsperson eine Familie an einem kleinen Übergang einer solchen Gurtförderanlage antraf. Wohl um die Faszination der Technik eindringlicher zu dokumentieren, hielt der Vater sein Kind (im Grundschulalter) über die laufende Gurtförderanlage: eine lebensgefährliche Handlung! Von der Aufsichtsperson auf die Fahrlässigkeit seines Handelns angesprochen, erwiderte der Vater gelassen, dass seine Familie ausreichend versichert sei. (vor 1995)    
[8] Der tote Onkel: Von einem streng geführten Familienbetrieb erzählt man sich Folgendes: Ein Mitarbeiter bittet seinen Chef, einen alten Patriarchen, um einen Tag Urlaub für die Beerdigung seines Onkels. Der Chef lehnt ab mit der Begründung, dass der Onkel ja auch nicht auf die Beerdigung des Mitarbeiters käme. (vor 1997)    
[9] Führungskniffe: In Verhandlungen ist es oft beser, die Rolle des Gönners innezuhalten und nicht die Rolle des Bittstellers. Ein einfacher Trick sorgt dafür, dass ein Vorgesetzer seinen Wunsch in die Bitte seines Untergebenen übersetzt. Dazu ein Beispiel: der Chef möchte ein Projekt entgegen vorheriger Absprachen mit dem untergebenen Projektleiter beschleunigt abgearbeitet wissen. Es würde seine Position schwächen, die eigene Absprache gegenüber dem Untergebenen zu revidieren. Stattdessen lässt er eine dritte Person den Wunsch indirekt an den Projektleiter herantragen. Diese dritte Person, vermittelt dem Projektleiter nun durch geeignete Rhetorik, dass es in seinem eigenen Interesse sei, das Projekt schneller als geplant abzuarbeiten. Er, der Projektleiter, solle dann den Vorgesetzen auf diesen seinen Wunsch ansprechen, um die nötigen Ressourcen zu erhalten. (1997)    
[10] Familienbetrieb: Zum Auftakt eines großen Firmenjubiläums preist ein gewichtiger Lokalpolitiker in den höchsten Tönen die guten Eigenschaften des anwesenden Gründervaters der Firma. Dies hört sich ein ehemaliger Mitarbeiter an und kommentiert es leise durch die Mittel der Körpersprache. Als etwa der stets familiäre Umgangston des "Alten" gelobt wurde, da nickte der Ehemalige zustimmend mit dem Kopf. Gleiches tat er als der direkte menschliche Kontakt der Firmenleitung mit allen Mitarbeitern betont wurde. Ein heftiges Kopfschütteln rief aber die Behauptung hervor, dass man stets gerne und mit Freude in der Firma arbeite. Der Ehemalige erläuterte dann, dass es durchaus sehr familiär sei, wenn der Chef alle Kollegen duze und so behandele wie ein herrschsüchtiger Vater seine Kinder. Es sei auch sehr direkt und persönlich, wenn Mitarbeiter vor versammelter Mannschaft "abgesaut" werden und Schimpftiraden über sich ergehen lassen müssen. Das Kopfschütteln erklärt sich aus dem Vorhergesagten. (2002)    
[11] Europa der Regionen: In einem guten alten Nahverkehrszug mit verqualmtem Raucherabteil und monoton umherscheppernden Bierdosen geriet ich einmal mit einem pensionierten Metallarbeiter ins Gespräch. Er fuhr mit mir die Strecke von Herne bis Mönchengladbach und erzählte lebhaft von seinem engagierten Leben. Wie er in der Jugendarbeit tätig gewesen sei und den Kontakt mit den heutigen Jugendlichen keinesweg scheue, von seinem gewerkschaftlichem Engagement und vielem mehr. So kam er irgendwann auch auf das Thema der vielen Ausländer im Ruhrgebiet zu sprechen. "Tja," meinte er "eigentlich besteht das ganze Ruhrgebiet ja nur aus Ausländern. Also, zuerst kamen da im 19. Jahrhundert jede Menge Bayern, Schlesier, Schwaben und anderes Volk. Nach dem Krieg da hatten wir hier die Hessen in Hülle und Fülle und dann kamen die Italiener, Türken und Polen. Und ich selbst bin wohl ein Gemisch aus all denen." Besser als dieser Mann kann man das Europa der Regionen kaum verinnerlichen! (2001)   <= ähnlich multikulturell geprägt wie das Ruhrgebiet ist das ehemalige Bergbaurevier von Lüttich. Das Schauberwerk Blegny-Trembleur dokumentiert eindringlich das Leben der ehemaligen Gastarbeiter in dieser Region.
[12] Konjugationen: Ein Pole weilte zu Gast bei einer Familie in Deutschland. Vom letzten Krieg her sprach er noch recht gutes Deutsch. Die Verständigung war problemlos. Eines Abends kam er stolz von einem Rummelplatz nach Hause und berichtete erstaunt, was es dort alles für Juxmaschinen gäbe. Besonders stolz war er aber darauf, an einer Schießbude eine Rose gewonnen zu haben. Es waren wohl Konjugationen wie "preisen - gepriesen", "reissen - gerissen" oder "verschleissen - verschlissen" die ihn sagen liessen: "Ich habe heute eine Rose geschissen". (um 1973)    
[13] Deutungsspielraum: Die folgende Geschichte ereignete sich während einer Blützezeit der IT-Branche, so etwa um das Jahr 2000. Eine Arbeitsgruppe, so erzählt man sich, habe von einem großen Kunden den Auftrag bekommen, eine Routine zum Speichern wichtiger Daten in eine Datenbank zu schreiben. Bisher erfolge die Speicherung der Daten lediglich in einem ungeschützten Dateiformat. Dabei war allen Personen klar, dass die Routine als modulare Ergänzung einer bereits bestehenden Anwendung eine Datenbank als Speichermedium nutzen sollte, also neben dem Speichern natürlich auch das Öffnen der Daten Gegenstand des Auftrages war. Als nun der Projektleiter in einer großen Sitzung nach dem Stand der Dinge fragte, da erhielt er die Antwort, dass man den Auftrag eigentlich so gut wie erfüllt habe. Das Speichern der Daten in einer Datenbank sei erledigt. Dabei umspielte ein veschmitztes Lächeln den Mund des Sprechenden. Der Projektleiter durfte in dem Glauben sein, dass somit der Auftrag vollständig und termingerecht erfüllt worden sei. Die fast justitiable Beschreibung des Erreichten machte den Projektleiter aber stutzig und im Zuge einer weiteren Befragung zeigte sich seine Skepsis als berechtigt: man hatte zwar das Speichern der Daten in einer Datenbank erledigt, nicht aber das Öffnen bzw. Laden der Daten. Nun weiss jeder der etwas mit Computern zu tun, was dies bedeutet. (um 2000)    
[14] Nietzsche im Alltag: Diese Geschichte erzählte ein Mann, der mit einer Frau ein Büro teilt. Die beiden kommen hervorragend miteinander aus, das sei vorausgeschickt. Nachdem der Mann einige bröselige Brötchen auf seinem Arbeisplatz gegessen hatte, holte er unaufgefordert einen Staubsauger aus einem anderen Büro und beseitigte die Krümelei restlos und korrekt. Mit sich und seiner Tat zufrieden und in der Hoffnung auf ein kleines Lob für die Reinlichkeit wollte er den Staubsauger zurückbringen. Doch kam es anders. Statt ein Lob zu hören wurde er mit der Frage konfrontiert, warum er denn, wo doch der Staubsauger schon einmal im Büro sei, nicht gleich das ganze Büro reinige. Tja, ob es vielleicht ein solch freundliche Alltagsbegebenheit war, die den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche um das Jahr 1873 schreiben ließ: "Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können." (2002)    
[15] Völkerverständigung: Das Sowjetimperium befand sich in der Auflösung. Michail Gorbatschow hatte den Eisernen Vorhang, der damals die Welt in zwei Blöcke trennte, gehoben. Auf einer Werft in Ostfriesland lag zu jener Zeit ein riesiger russischer Eisbrecher im Trockendock. Er sollte einen neuen Bug mit noch besseren Fähigkeiten zum Brechen von Eis erhalten. Für mich war das Schiff voller Mystik und Geheimnis. Man sah echte russische Seeleute umherlaufen, in den Mannschaftsräumen, die ich als Praktikant frei begehen konnte, hingen Portraits vom Vorsitzenden der KPdSU und es lagen geheimnisvolle Bücher und Zeitungen in kyrillischer Schrift herum. Ich dachte daran, wie dieses Schiff und diese Menschen einmal Teil des Kalten Krieges gewesen waren. Und ich hörte Munkeln darüber, dass es den Seeleuten noch immer verboten sei, abends in der Hafenstadt das Leben zu genießen. Ich hörte aber auch, wie ein bestimmter Werftmitarbeiter, ein junger lebensfroher Kerl der sich gab wie Roy Black Anfang der 1970er Jahre, Kontakt zu den Russen geknüpft habe. Ich wollte mehr erfahren und hörte nun immer besonders gut hin, wenn in der Mittagspause in der Kantine oder irgendwo sonst auf dem Werftgelände etwas Entsprechendes erzählt wurde. Ich dachte daran, wie sich die Russen mit uns Deutschen nun über die neue, offene Welt unterhielten, wie die Russen von Abenteuern des Eismeeres erzählten oder vielleicht sogar von geheimen Militärsachen. Letztendlich lüftete sich aber das Geheimnis und alles was der pfiffige und kontaktfreudige Deutsche mit den Russen zu bereden hatte drehte sich um kleinere Fuggeleien. Südseemuscheln, russische Uhren und Armeeabzeichen gegen schweissverpackte Kasettenrekorder, Schallplatten oder Zigaretten. So, und nicht über die großen politischen Themen, begannen sich die ehemaligen "Systemgegener" miteinander zu verständigen. (1989)    
[16] Andere Völker, andere Fähigkeiten: Es war auf einem Bergbaukongress in Polen. Die Vortragenden kamen vor allem aus osteuropäischen Ländern, es waren nur sehr wenige Vertreter westlicher Staaten anwesend. Einer der ersten Vorträge handelte von irgendwelchen elektrischen Schaltungen für Bergbaumaschinen. Der Vortragende stieg ohne Einleitung sofort in spezielle Formelwerke ein und missachtete auch ansonsten jede Regel zeitgemässer Präsentationstechniken. Er legte Folien voll mit griechischen Buchstaben, Integralzeichen und handschriftlichen Ergänzungen auf. Das Blatt war so vollgeschrieben und die Schriftgröße so klein, dass man beim besten Willen nichts erkennen konnte. Der Vortragende flog dann mit großer Geste weitschweifig über solche Darstellungen. Er kommentierte sie mit Floskeln wie "es ist hier leicht zu sehen, dass...", "wie das Zahlenmaterial anschaulich belegt..." oder "durch einfache Ableitungen gelangt man zu der Erkenntnis..." Für mich war hier weder etwas leicht zu sehen, noch anschaulich belegt oder erkannt. Ich erwartete nun, dass der Vortragende in der anschließenden Diskussion zerrisen werden würde. Wie so oft, sollte es aber auch hier anders kommen. Ein anderer Pole bat den Vortragenden in der Diskussion, doch noch einmal - die übrigens sehr interessante - Folie Nr. 3 aufzulegen. "Ja, Danke. Sehen sie, oben links wie gelangen sie denn zu diesem Wert von Eta? Ich konnte ihnen in allem folgen, hierin aber nicht." Auf solche Fragen antwortete der Vortragende souverän und ruhig. Die Fragenden zeigten sich beeindruckt und zufrieden mit den Antworten. Mir blieb als einzige Schlussfolgerung, dass Polen, Ukrainer, Russen und Tschechen über besonders ausgeprägte Fähigkeiten zum schnellen Erfassen absolut verdichteter mathematischer Formalismen verfügen; Fähigkeiten die bei uns im Zeitalter von Rhetorikseminaren und Power-Point-Vorträgen vielleicht weniger gebraucht oder genutzt werden. (2000)    
[17] Gastarbeiter in England: Ein deutscher Koch arbeitete einmal für ein Jahr am englischen Flughafen Gatwick. Als ich ihn besuchen wollte, kündigte er an, dass wir dann abends bei ihm auf alle Fälle richtig gut essen würden und anschließend schön in den Pub gingen. Ich stellte mir vor, wie der Kumpel seine raffinierten Kochkünste, die er erwiesenermaßen hatte, in ein mehrgängiges Menü umsetzen würde und wie wir dann abends, gut gesättigt, den englischen Lebensstil in urgemütlichen Pubs kennenlernen würden. Der Abend wurde ein voller Erfolg auch wenn alles ganz anders kam. Nach einer 8-stündigen Fahrradtour durch die Sommerhitze der Grafschaften Kent und Surrey kam ich bei dem Kumpel völlig erschöpft an. Dieser begrüßte mich und kam gleich zur Sache: er öffnete die Kühlschranktür und präsentierte stolz sein Arsenal: deutsches Bier, deutsche Marmelade, deutsche Wurst und, in einem anderen Schrank: deutsches Brot. Das Essen war gut und ich wurde mehr als satt. Und im eher schlicht eingerichteten Pub trafen wir die Kollegen vom Flughafen. Es waren allesamt Deutsche, die am Flughafen arbeiteten. Und so lernte ich statt echt englischer Kultur kennen, wie es sich auf Arbeit in der Fremde lebt. (um 1987)    
[18] Tote Tiere beissen nicht: In der Türkei unterwegs reisten wir viel mit Überlandbussen. So gelangten wir auch in die große Hafenstadt Trabzon am Schwarzen Meer. Der Bus entliess uns weit ausserhalb der Innenstadt im Hafenviertel. Es war ein brütend heisser Tag und wir hatten schweres Gepäck dabei. Verständlicherweise fragten wir beim ersten "Hotel" an, ob man denn dort übernachten könne. Der Portier beäugte uns misstrauisch bis verständnislos und führte uns dann eine steile Treppe hinauf. Über die vielen, engen, verwinkelten Flure vor uns herlaufend machte er ständig links und rechts Türen zu und zeigte uns dann ein Zimmer. Wir fanden es akzeptabel und wollten dann noch die Gemeinschaftsdusche auf der Etage sehen. In der Duschwanne sahen wir tote Kakerlaken liegen. Mit unserem spärlichen Türkisch wiesen wir auf die Tiere hin. Worauf er lapidar und verdutzt antwortete, dass sie doch tot seien! So lernten wir zweierlei: In Hafengegenden sucht man nicht unbedingt nach "normalen" Hotels und Hygienestandards sind nicht unbedingt eine Frage des Landes, sondern eher des Umfeldes. (1992)    
[19] Pragmatismus: Ich war noch ein kleines Kind und mein Herz erweichte sich nicht nur innerlich für leidende Kreaturen. So fand ich eines Tages eine flügellahme Amsel und wollte ihr helfen. Ich erinnerte mich, dass in unserem Ort ein Taubenzüchter wohnte, der sich ja gut mit Vögeln auskennen müsste. Zu diesem Menschen ging ich nun und schilderte ihm die Lage. Noch heute höre ich ihn die Lösung sagen: "schmeiss `se ewitt". Das heisst soviel wie "werfe sie dagegen". Später erfuhr ich, dass der Taubenzüchter eine Wand in seinem Hof hatte, gegen die er alte und kranke Tiere warf um sie so zu erlösen. Der Taubenzüchter lebt heute schon längst nicht mehr, was aber aus der Amsel geworden ist, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. (um 1975)    
[20] Kameradensau: Es war während eines Praktikums auf einem Steinkohlenbergwerk, dass ich die nächste, weniger schöne, Geschichte erlebte. Ich war als Praktikant einem Transporttrupp zugeordnet. Gemeinsam mit einem anderen Kollegen fuhr ich mit einer dieselgetriebenen Einschienenhängebahn durchs Bergwerk und wir erledigten mit dem nützlichen Gerät so manche Fahrt durch das dunkle Grubengebäude. Dieser hängende Zug hatte nun in jede Fahrtrichtung genau eine Führergondel, für jede Fahrtrichtung eben eine. Ich fuhr natürlich den Zug niemals selbst, sondern saß immer in der rückwärtigen Gondel. Zum Ende der Schicht war es nun üblich, dass der Gehilfe des Bahnfahrers mit diesem die lange Heimfahrt zum Schacht per Bahn erledigte. Andere Kumpels mussten den beschwerlichen Weg per Fuß zurücklegen. Dies aber schien einem Kollegen weniger zu schmecken und so setzte er sich keck in die Gondel, in der eigentlich ich Platz nehmen sollte. Als ich ihn hinausbefördern wollte gab er schnell ein Lautsignal welches den Bahnführer in der anderen Gondel wissen ließ, dass er losfahren konnte. Da nun eine solche Bahn nicht sehr schnell ist, gelang es mir mühelos den Bahnfahrer zu Fuß zu erreichen. Als er über die Lage aufgeklärt war komplimentierte er eigenhändig den Trittbrettfahrer aus der Gondel. Dieser zog dann wütend und mit lautem Fluchen Richtung Schacht ab. Kurze Zeit darauf saß ich in der Gondel und wir fuhren Richtung Schacht. Da machte es einen starken Ruck und ich hörte lautes Schimpfen vom Fahrer. Da hatte doch der Kerl von vorhin einen dicken Wassersschlauch zur Versorgung des Strebbetriebes quer über die Schienen gelegt! Das Problem war, dass keiner den Übeltäter kannte. Es dauerte gut eine halbe Stunde den Schaden zu beheben. Über Tage, im großen Duschsaal (Waschkaue) glaubte ich unter den vielen schwarzen Bergleuten den Übeltäter wiederzuerkennen, aber ich war mir nicht sicher. Als ich dann für kurze Zeit auf Toilette verschwand, nutze dieser üble Bursche die Zeit, mir alle Duschutensilien (Schwamm, Seife, Bürste, Augencreme) überall in der Dusche zu verstreuen. Ich sah ihn nie wieder und auch die anderen Kumpels kannten ihn wohl nicht. Wahrscheinlich war es ein Fremdarbeiter, einer anderen Firma also, der nicht in das ansonsten auf Kameradschaft ausgelegte soziale Gefüge der Bergleute eingebunden war. (um 1991)    
[21] Erkennungsprobleme: Zur ersten Schicht als Praktikant auf einem Steinkohlenbergwerk meldete ich mich sehr früh morgens bei meinem Steiger. Der gab mir kurz angebunden zu verstehen, dass ich mich umgezogen in einer Stunde am Schacht einfinden solle um dann mit ihm "anzufahren", das heisst ins Bergwerk einzufahren. Ich ahnte schon das Übel und es sollte genau so kommen wie ich es befürchtete. Ich stand umgezogen mit Kopflampe, Knieschützer und CO-Filter anfahrfertig auf der Hängebank (wo man in den Förderkorb ein- und aussteigt) und blickte nun in all die hunderte Gesichter von Bergleuten um meinem Steiger zu erkennen. Eine kleine Hilfe war, dass Steiger weisse Helme tragen. Aber das half kaum weiter, denn für mich hatte jeder Steiger einen Schnauzbart, war zwischen 35 und 45 Jahre alt und hatte den gleichen ruhigen, souveränen und sehr konzentrierten Blick. So stand ich nach gut 20 Minuten am Ende der offiziellen Seilfahrt fast alleine am Schacht und beschloss, alleine anzufahren um meinen Arbeitsort alleine zu suchen. Als ich dann nach einigen Exkursen meinen Steiger unter Tage endlich fand, frug dieser mich nur, warum ich denn nicht mit ihm angefahren sei. Darauf fiel mir dann keine rechte Antwort ein und ich war froh, nach wenigen Tagen einer anderen Kolonne zugeordnet zu werden. (1991)    
[22] Schwächen sind menschlich: Es war die zweite Schicht eines Praktikums in einem hessischen Salzbergwerk, als ich die folgende sehr nette Geschichte erlebte. Ich wohnte dort in einem pensionsähnlichen Kasino und am Abend meiner ersten Schicht drängten mich die anderen Bewohner des Kasinos, allesamt Kumpels, zu einem zünftigen Einstand. Den gab ich denn auch. Mit schweren Augen und mattem Blick fuhr ich dann am zweiten Tag an. Unter Tage war es hell, die salzenen Wände strahlten weiß oder zumindest hellgrau (vom Ruß der Dieselfahrzeuge). Eine recht hohe Führungskraft, vielleicht ein Obersteiger, nahm mich in seinem offenen Geländewagen mit auf eine Tour durch die untertägigen Streckensysteme. Er erzählte fortwährend und voller Stolz von seinem Betrieb und sicherlich war es auch alles sehr interessant. Indes konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Atmung, um so die Konsequenzen alkoholbedingter Magenverstimmung abzuwenden. Nach vielleicht zwei Stunden gab ich dann aber den Widerstand gegen meine Physiologie auf und bat, kurz hinter einen Pfeiler aus Salz verschwinden zu dürfen. Dort verschaffte sich mein Magen Erleichterung und ich trat etwas frischer wieder vor den Obersteiger. Dieser hatte wohl genau gewusst, wo der Hase im Pfeffer lag. Er sagte nur: "Fahr mal gleich wieder mit mir aus. Für dich ist die Schicht heute wohl gelaufen. Na ja, ich hoffe wenigsten, der Einstand war gut!" Es ist diese Art, menschliche Schwächen (die vielleicht manchmal auch Stärken sind) zu respektieren, die so manche Führungskraft positiv auszeichnet. (1990)    
[23] Führungsqualitäten: Wir waren unterwegs im Süddeutschen als wir auf einem Salzbergwerk eine Befahrung mit dem Betriebsführer unternahmen. Unser Führer war eine sehr dominante und weit über das Bergwerk hinaus bekannte Persönlichkeit. Er frug uns direkt zu Beginn, ob wir denn in einer Verbindung aktiv seien und als manche von uns die Frage verneinten, hakte er gleich nach mit der Frage nach dem Warum. Bemerkenswert schien mir die Bemerkung von ihm, dass er als Führungskräfte eigentlich nur Menschen mit Familie wolle. Denn ebenso wichtig wie fachliches Können sei es, die Sorgen und Nöte seiner Mitarbeiter zu verstehen. Diese Weisheit zu verstehen gelang mir erst Jahre später. (1994)    
[24] Derbe Weisheit: Ein Bergwerk kann man unter anderem in zwei Bereiche unterteilen: Gewinnung und Aufbereitung. In der Gewinnung wird das Wertmineral aus dem Gebirge gelöst. In der Aufbereitung wird das Erz oder ein sonstiges Rohprodukt soweit veredelt, dass es verkaufsfähig wird. Wir besuchten ein süddeutsches Bergwerk und wir wurden persönlich vom Hauptverantwortlichen für die untertägige Produktion - sprich Gewinnung - geführt. Neben der Vorführung vielerlei technischer und organisatorischer Raffinessen lage es ihm aber besonders am Herzen die folgende Weisheit zu vermitteln: "Der Arsch muss immer offen sein". Was er damit sagen wollte, war, dass die Gewinnung nur so viel produzieren könne, wie die Aufbereitung weiterverarbeitet bekäme. Man kann wohl behaupten, dass dieser Spruch verallgemeinert werden darf: Eine Akquisition sollte nicht unbedingt mehr Aufträge an Land ziehen, als Produktion und Vertrieb erledigen können. Betriebsinterne Schulungsmaßnahmen sollten nicht mehr Wissen erzeugen, als im Alltag auch verwendet werden kann und die Masse aller Börsenspekulanten sollten nicht mehr Aktien kaufen als Wert vorhanden ist: der Arsch sollte eben immer offen sein!    
[25] Reise in den Orient: Gemeinsam mit einem Studienkollegen hatte ich ein 4-wöchiges Praktikum in einem Kupferbergwerk bei Küre Lagekarte von Küre, an der Schwarzmeerküste in der Türkei organisiert. Schon Wochen vorher planten wir die offensichtlich nicht ganz einfache Anreise. Weil das Ganze nicht viel kosten sollte hatten wir uns für eine sehr preiswerte Fluglinie entschieden. Dass es sich dabei um die Fluggesellschaft des ehemaligen Jugoslawien handelte fiel uns erst so richtig auf, als die Linie den Flugverkehr aufgrund des politischen Druckes aus Deutschland aufgeben musste. Damals befanden sich die ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens im Krieg. Nun denn, wir beschlossen, uns in einem türkischen Reisebüro in der Bergbaustadt Alsdorf über Alternativen aufklären zu lassen. Als wir uns für eine non-stop-Busreise vom Aachener Petersplatz zum Topkapi-Bushof in Istanbul entscheiden wollten, riet uns der türkische Chef des Büros eindringlich davon ab. Vergeblich. So sassen wir eines Tages in einem vollen Reisebus, die einzigen deutschen unter Türken. Es sollten 70 denkwürdige Stunden vergehen, bis wir unser Ziel an der Schwarzmeerküste erreichten. Da lernten wir einen jungen Türken kennen, der sich gekleidet hatte wie Sandokan und davon Sprach, in Bosnien den Muslimen als Kämpfer zur Seite stehen zu wollen. Da gab es einen kleinen Intellektuellen der seine Pässe vergessen hatte und dessentwegen wir an der österreichisch-ungarischen Grenze 7 Stunden warten mussten (was ihn aber gar nicht störte). Da gab es eine junge Türkin die ganz in Tüchern verhüllt an der ungarisch-serbischen Grenze bewusstlos wurde. Und weil Kölnisch Wasser und leichte Wangenklapse da nicht weiterhelfen, wurde sie mit viel Umstand in ein serbisches Krankenhaus gebracht. Sehr unangenehm vielen manche Grenzer auf, die sich im Gepäck der Reisenden frei bedienten. Und stark ist auch noch die Erinnerung an die offensichtliche Armut in Bulgarien. Am stärksten aber ist die Erinnerung an die quirlige und freundliche Stimmung an Bord. Vom Busteam bekamen wir immer wieder frisches Trinkwasser und Kölnisch Wasser zur Erfrischung, Mitreisende luden uns zum Essen ein und als die türkische Grenze näher kam, begannen die jungen Türken heimatliche Schlager ins Mikrofon zu singen. Auch wir wurden zu einer Einlage aufgefordert und so erklang irgendwo in Bulgarien dann das Steigerlied. Kurz vor der Grenze wurde halt gemacht. Am Wegesrand standen Zigaretten, Schnaps, Raki, Käsekonserven und Elektronikgeräte zum Verkauf. Nach einer halben Stunde war der Reisebus bis in alle Ecken mit solchen Schnäppchen gefüllt. Daraufhin ging ein Busfahrer um und sammelte von allen Mitreisenden eine freiwillige Spende für die Abwicklung der Grenzformalitäten ein. An der türkischen Grenze, die übrigens mit Wachtürmen und Stacheldraht gesichert ist wie die ehemalige DDR, stieg der Senior-Busfahrer aus und ging langsam auf eine Grenzbude zu. Aus dieser kam ein gemütlicher Grenzer heraus. Die beiden umarmten sich herzlich, wobei der zuvor gesammelte Geldbetrag übergeben wurde. Als daraufhin Zöllner den Bus kontrollierten, fanden sie selbst bei genauestem Hinsehen keinerlei verdächtigte Artikel. Dabei wären die Fluppen, der Schabau und der Käse aus allen Ecken gefallen, hätte man nur einmal fest von außen gegen einen Reifen getreten! Spät abends kamen wir in Topkapi an. Ruckzuck löste sich die Fahrgemeinschaft in alle Himmelsrichtungen auf. Wir standen plötzlich alleine und hilflos inmitten von tausenden wuseligen Verkaufsständen, Busbüros, Bussen und Kofferschleppern. Es dauerte nicht lange da sprach uns ein Schlepper an, wohin es denn gehen solle. "Küre", war die Antwort, "alles klar, mitkommen", kam die Aufforderung zurück. Und jetzt begann etwas, was wir in der Türkei zigfach erlebt und später zunehmend auch geschätzt haben: die Schlepper sorgen sich wirklich darum, dass man erhält was man sucht. Sie sind Teil eines Systems, das selbst erkennt, was der potenzielle Kunde will und es ihm auch anbietet. Dass dabei eine Provision heraus springt ist nur recht und billig. Mit flauem Gefühl saßen wir kurze Zeit später wieder in einem Bus und erst als wir auf einer Landkarte eindeutig erkennen konnten, dass wir Richtung Osten fuhren, fühlten wir uns sicherer. Sehr früh am nächsten Morgen, wir waren noch ganz schlafttrunken, hielt der Bus plötzlich an einer Kreuzung mitten im Wald auf einem Hügel an. "Here Küre", sagte der Busbegleiter auf Englisch und fing auch sofort an, unser Gepäck auf die Strasse zu stellen. Ehe wir etwas fragen konnten, standen wir alleine mit unserem Gepäck auf der Waldkreuzung. Kurz Zeit später kam ein Taxi. Offensichtlich hatte der Busfahrer das Taxi bestellt. Wir waren im System und man sorgte für uns. 10 Minuten später waren wir an unserem Ziel. Zukünftig ließen wir uns willig von Schleppern Unterkünfte, Busse oder auch Ausflugsfahrten vermitteln. Wenn man sich auf das System einlässt und möglichst genau sagt, was man will, dann sind die Schlepper mindestens so viel wert wie ein gutes Reisebüro.    
[26] Die Angouillade: Gemeinsam mit einen Verwandeten besuchte ich einmal Paris. Neben den üblichen Sehenwürdigkeiten lockte mich vor allem der Gedanke, einmal "richtig französisch" essen zu gehen. So begann ich in einem Reiseführer nach geeigneten Restaurants zu suchen. Letzendlich wählte ich ein kleines Restaurant irgendwo in der Nähe der Tuilerien aus. Mein Begleiter indes wollte eigentlich lieber ein normales Steak essen und dazu müsse man ja nicht in ein bestimmtes Restaurant gehen. Ich blieb hartnäckig und nach einem langen Fußmarsch saßen wir dann abends in dem kleinen, gemütlichen Speiseraum. Mit meinen Französisch-Kenntnissen allerdings war es nicht so gut bestellt und mein kleines Wörterbuch half da auch nicht viel weiter. Mein Begleiter wählte ein klassisches Steak und er sollte mit seinem Mahl auch einigermaßen zufrieden sein. Mich fasznierte da hingegen ein Gericht auf der Speisekarte auf welches ich mir keinen Reim machen konnte. Da stand etwas von "porc" und "saucisson" aber das Ganze sollte soviel kosten wie ein Heilbuttfilet. Na, bei "Schweinefleisch" und "Würstchen" kann man ja nicht viel falsch machen und so bestellte ich die Angouillade. Vorweg gab es Weißwein. Dann kam das Schweinewürstchen. Von Weitem schon roch ich, was mir blühen sollte: Niere! Und wer weiß was sonst noch! Auf einem riesigen Teller lag dick und prall einr Wurst, wahrscheinlich gefüllt mit allerlei Eingeweiden. Mir verzog es die Gedärme vor Ekel. Als einzige Beilage lag verloren neben der Riesenwurst ein kleiner Stapel gedünsteten Selleries. Vor Stolz nun musste ich das Würstchen essen und obendrein auch noch zufrieden wirken. Mit jedem Bissen stieg der Ekel und ich bestellte zwei zusätzliche Flaschen Wein zum Spülen. Mein Begleiter merkte nichts und so hatte ich zumindest mein Gesicht gewahrt. Vorerst. Denn der Chefkoch, der persönlich bediente, schien sich einen Spaß aus meinem Leid zu machen. Als er abräumte legte er seinen Oberkörper fast waagrecht über den Tisch und blickte mir mit seitlich verdrehtem Kopf verschmitzt in die Augen: "Ah, Monsieur, vous avez bien et fort travaillez!" Seine Beobachtung, dass ich wohl gut und hart gearbeitet habe und sein wissendes Lächeln ließen keinen Zweifel zu, dass ihm mein Leid nicht entgangen war. Er nötigte mir zur Demütigung dann auch noch eine Antwort auf die Frage ab, wie es mir denn geschmeckt habe. Selbstverständlich blieb mir keine andere Wahl als die Vorzüglichkeit des guten Gerichtes zu preisen. Es war ein kleiner Trost, dass am Nachbartisch eine französische Familie sich ebenfalls an einer Angouillade labte. Zuhause in Deutschland wollte ich diese Episode einer alten Paris-Liebhaberin erzählen. Kaum dass ich mit der Einleitung fertig war sprach sie aus "die Angouillade". Sie klärte mich dann auf, dass diesem Traditionsgericht schon so mancher deutscher Gast auf den Leim gegangen sei. (2000)    
[27] Hessisch-Flämisch: Ein waschechter Hesse besuchte einmal Brüssel und zog sich auf folgende Weise eine schmerzhafte Beule zu: Mit schnellem Schritt wandelte er auf die große, gläserne Eingangstür eines Kaufhauses zu, griff sicher nach dem Türknopf - und stieß mit voller Wucht mit seinem Kopf gegen das Glas. In dem Moment kam ein anderer Passant vorbei, zog an der Tür und betrat ohne Zwischenfall das Kaufhaus. Nach dem ersten lauten Fluchen zeigte der Hesse voller Zorn auf die Türaufschrift und sagte: "Kerrle, da steht doch `dricke´, unn net ziehe!" Tatsächlich stand auf der Tür "Trekken", was auf Flämisch so heisst wie Ziehen. Für den Hessen aber klingt "Trekken" wie "Dricke" also Drücken. (1989)    
[28] Ausgleichende Gerechtigkeit: Als Praktikant auf einem Kalisalzbergwerk an der Grenze von Hessen und Thüringen erlebte ich in den ersten Monaten des Jahres 1990 wie die Grenze zwischen der DDR und der BRD geöffnet wurden. Man wurde noch kontrolliert, die DDR sah noch grau und trostlos aus. Überall roch es nach Braunkohlenbriketts und in den Gaststätten "drüben" musste man oft lange anstehen um dann die sprichwörtlichen Krautvariationen zu bekommen. In der Morgenpause unter Tage bekam ich dann mit, wie die Kumpels die Grenzöffnung erlebten. Da gab es Beschwerden über die elend langen Einkaufsschlangen im Supermarkt, die von den Einkäufern aus dem Osten gebildet wurden. Aber es gab auch prahlerische Geschichten darüber, wie man aus der Grenzöffnung Profit schlagen könne. So erzählte ein Sprenghauer eines Tages stolz davon, wie er "für einen Appel und ein Ei" in der DDR ein ganzes Schwein und dazu jede Menge "super Werkzeug" gekauft habe. Dass die Ossis keine Ahnung vom wahren Wert der Dinge hätte, na ja, das sei ja nicht sein Problem. Die wöllten halt nur DM haben. Und dann gab es da auch die Geschichte mit den Diskoplakaten. Eine Disko aus Hersfeld bot jungen Frauen aus der DDR den Eintritt umsonst an. Wie das auf die jungen Männer aus der DDR wirken musste war dabei wohl weniger interessant. Nun begann in jener Zeit aber auch die Diskussion über eine mögliche Währungsunion konkreter zu werden. Und so wie man das Recht des Stärkeren auf seiner Seite sah, wenn es darum ging eigenen Vorteil zu ergattern, sosehr beklagte man sich über die Pläne, dass die marode DDR-Währung eventuell im Verhältnis 1:1 gegen die harte DM getauscht werden könnte. Hauptargument: dann kaufen die Ossis hier doch alles mit ihrem Geld für einen Appel und ein Ei auf. (1990)    
[29] Altgriechisch heute: Ein ausgewiesener Kenner der altgriechischen Sprache kam einmal auf die Idee, seine Fähigkeiten im Urlaub auf die Probe zu stellen. So frug er, auf Altgriechisch, in einem griechischen Reisebüro nach den Fährverbindungen vom griechischen Festland zu einer der vielen Inseln. Darauf hin brachen wohl die anwesenden Mitarbeiter in schallendes Gelächter aus und sie übersetztem ihm sinngemäß, was er gefragt hatte: "Oh edle Holden, saget mir an, wann die nächste Galeere die Gestaden gen Rhodos verlasse, ich möchte als Sklave die Fahrt genießen und begehre den Preis zu wissen." (vor 1999)    
     
     
     

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