Stanislaw Lem: Prof. Corcorans Welt als Computersimulation

= Eine skurrile Kurzgeschichte =

   

Titel: Sterntagebücher
Titel der polnischen Originalausgabe: Dzienniki Gwiazdowe
Autor: Stanislaw Lem
Erscheinungsjahr: um 1971
Kapitel: Aus den Erinnerungen Ijon Tichys, Abschnitt I

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Auf etwa 15 Seiten umreisst Stanislaw Lem die erkenntnistheoretische Begrenztheit unseres Seins in einer äußerst skurrilen Gechichte.

Der schroffe und weltabgewandte Professor Corcoran lädt den Erzähler Ijon Tichy zu einem Besuch in sein düsteres Domizil ein. Corcoran bewohnt eine riesige Fabrikhalle mit verglastem Gewölbe, beleuchtet von wenigen unverhüllten Glühbirnen. Der Wind zieht durch die Räume, alles wirkt kalt, düster, hoffnungslos und verlassen.

Assoziationssprung: Kommerzielle Nutzung von Hirnen in Kisten (Namibia)
Könnte man sich Corcorans trostlosen Keller
so ähnlich vorstellen wie im Bild oben?

In einem hohen und fast leeren Nebenraum stehen auf Regalen eiserne Kisten, wie Schatztruhen mit einem weißen Kärtchen daran. Jede dieser Kisten ist ein von Corcoran programmierter Mensch. In einer gesonderten Kiste wird die Welt der Menschen emuliert. Auf großen Platten sind alle Sinneseindrücke der Wesen hinterlegt, die in ihrem Leben auftreten können.

Ich möchte einige Stellen aus der Kurzgeschichte zitieren, die am besten die ausgwegslose Situation der künstlichen Wesen in ihren Computern beschreiben:

Zunächst werden die Computer beschrieben, welche die Hardware der corcoran`schen Geschöpfe ausmachen:

"An den Stäben waren Regale, sehr stabil, mit Stützen, darauf standen eiserne Kisten, etwa ein Dutzend..."

Der Professor lüftet dann gegenüber Tichy das Geheimnis der Kisten:

"In diesen Kisten befinden sich die vollendetsten Elektronenhirne, die es jemals gab. Wissen Sie, worauf ihre Vollkommenheit beruht?"

"Daraufhin, daß sie niemandem dienen, daß sie absolut zu nichts zu gebrauchen sind, daß sie unnütz sind; es sind von mir in die Tat umgesetzte, in Materie gekleidete Leibnizsche Monaden..."

"Jede dieser Kisten enthält ein Elektronensystem, das Bewußtsein erzeugt."

Corcoran beschreibt dann die Ähnlichkeit seiner Elektronenwesen mit unseren Gehirnen:

"unsere Hirne - geben Sie acht! - sind sozusagen an die äußere Welt angeschlossen, vermittels der Sinnesrezeptoren: der Augen, der Ohren, der Nase, der Haut und so weiter."

Und er stellt die erkenntnistheoretisch weitreichende Frage:

"Woher wissen wir, daß so unser Körper aussieht"

Und er beantwortet sie auch gleich selbst:

"Daher, daß gewisse Reize auf unsere Sinne einwirken und Anrgegungen durch die Nerven zum Hirn fließen. Stellen Sie sich vor, Tichy, daß ich Ihren Geruchssinn auf die gleiche Weise zu reizen vermag, wie das eine duftende Nelke tut - was werden Sie dann wahrnehmen?"

Assoziationssprung: Das Große Hirn von Olaf Stapledon (Erste und Letzte Menschen)

Tichy kann natürlich bloß antworten, daß er Nelkenduft wahrnimmt und so kann der Professor verallgemeinern:

"Wenn ich nun dasselbe mit allen Ihren Nerven tue, dann nehmen Sie nicht mehr die Außenwelt wahr, sondern das, was ich durch Ihre Nerven an Ihr Hirn telegrafiere . . . klar?"

Da Tichy auch dem zustimmen muß, kann der Professor seine Erläuterung in der Gleichsetzung unserer Gehirne mit seinen Elektronenwesen fortsetzen:

"Diese Kisten haben Organrezeptoren, die analog zu unserem Geruchssinn, Gesichtssinn, Tastsinn, Gehör und so weiter wirken. Die Drähte dieser Rezeptoren - gewissermaßen die Nerven - sind anstatt an die Außenwelt, wie unsere, an diese Trommel dort in der Ecke angechlossen."

  Einige Textstellen aus den Sterntagebüchern von Stanislaw LemEine ganz ähnliche Erzhälung über synthetische Seelen

Einige Textstellen aus Peace on Earth von Stanislaw LemZitate aus Lems "Peace on Earth" aus dem Jahre 1987

Extrakte aus einem Artikel der ZEIT vom 7. März 2002Namen im Zusammenhang mit "Neurotheologie"

Und diese Trommel in der Ecke ist das Universum der Kisten:

"Das ist ihr Schicksal." und weiter: "Ihr Schicksal, ihre Welt, ihr Dasein - alles, was sie erfahren und erkennen mögen. In den Trommeln befinden sich besondere Bänder mit registrierten elektrischen Reizen...."

Und Corcoran beschreibt auch, welche Reize er dort einprogrammiert hat:

"...das sind, Tichy, die heißen Nächte des Südens und das Rauschen der Wellen, die Formen tierischer Leiber und Schießereien, Begräbnisse und Zechereien und der Geschmack von Äpfeln und Birnen, Schneewehen, Abende, die man im Familienkreis am brennenden Kamin verbringt, und das Geschrei an Deck eines untergehenden Schiffes und die Konvulsionen einer Krankheit. Das sind die Gipfel der Berge und Friedhöfe und die Halluzinationen Phatasierender - Ijon Tichy: Dort ist die ganze Welt!"

Aber Corcorans Welt ist nicht deterministisch, sie ist keine Grammophonplatte, wie er selbst sagt, sondern:

"Das Schicksal meiner eisernen Kästen . . . ist nicht bis zum Schluß vorher bestimmt, denn die Ereignisse dort in der Trommeln sind auf Reihen paralleler Bänder gebannt, und nur ein entsprechend der Regel des blinden Zufalls wirkender Selektor entscheidet, aus welcher Bandreihe der Rezipient der Sinneswahrnehmungen einer bestimmten Kiste im nächsten Augenblick die Inhalte aufnehmen wird."

Und Corcoran kennt die "Menschen" die in seiner Welt aus Elektronenrechnern leben. Da gibt es "ein siebzehnjähriges Mädchen, grünäugig, mit rotblondem Haar, mit einem Körper, der einer Venus würdig wäre. Sie ist die Tochter eines Staatsmann...Sie liebt einen Jünglin, den sie fast jeden Tag durchs Fenster sieht und der ihr Fluch sein wird."

Eine andere Kiste "ist ein Gelehrter. Er ist schon der allgemeinen Gravitationstheorie nahe, die in seiner Welt verbindlich ist, in dieser Welt, deren Grenzen die eisernen Wände der Trommeln sind..."

Das schauerliche an der Welt Corcorans ist die Tatsache, daß (fast) alle ihre Bewohner nichts davon ahnen, daß sie ein bloßes Elektronengeflimmer in Eisenkisten, aufgestellt in einer öden verlassenen Fabrikhalle sind.

Tichy will es aber noch nicht ganz glauben, und fragt Corcoran deshalb, warum denn seine Geschöpfe keine Ahnung von der Virtualität ihres Seins haben sollen. Daraufhin entsteht der folgende Dialog:

Corcoran: "Sie setzen sich aus Atomen zusammen, wie? Fühlen Sie Ihre Atome?"

Tichy: "Nein."

Corcoran: "Diese Atome bilden Eiweißteilchen. Fühlen Sie ihr Eiweiß?"

Tichy: "Nein."

Corcoran: "In jeder Stunde des Tages und der Nacht werden Sie von kosmischen Strahlen durchbohrt. Spüren Sie das?"

Tichy: "Nein."

Corcoran: "Wie sollen dann meine Kisten erfahren, daß sie Kisten sind, Sie Esel! Genauso wie für Sie diese Welt authentisch und einzig ist, genauso sind für diese Hirne die Inhalte authentisch und einzig real, die zu ihren elektrischen Hirnen aus meiner Trommeln fließen..."

Nach einigen weiteren Wortwechseln über einen Physiker in der künstlichen Welt kann Tichy bloß noch verzweifelt an seiner Hoffnung festhalten:

"Aber ich weiß dank der Physik, daß ich aus Atomen gebaut bin".

Und Corcoran erwidert kategorisch: "Er weiß das auch, Tichy." Mit "er" ist der Physiker in einer der Kisten gemeint.

Corcorans Maschinerie ist aber nicht perfekt. Manchmal springen die Tastapparaturen auf den großen festplattenähnlichen Datenträgern ungewollt hin und her, etwa wenn eine Ameise die Mechanik stört. Die Menschen in Corcorans Welt erleben dann plötzliche Erlebniszustände wie "deja vu" oder eine Verkettung unerklärlicher Zufälle.

Stanislaw Lem überlässt es dem Leser, die Erzählung auf unsere eigene Welt zu übertragen. In der Philosophie gibt es den Begriff des Solipsismus. Damit ist gemeint, daß bloß das eigene subjektive Erleben real sei und alles andere der bloßen Einbildung entspringe. Und tatsächlich ist es der Philosophie bis heute nicht gelungen, die reale Existenz der Welt zu beweisen. Descartes "cogito ergo sum" ist das Eingeständnis, daß viel mehr als dieses "Ich denke, also bin ich" auch nicht beweisbar ist.

Stanislaw Lems Kurzgeschichte ist aber nicht bloß ein unterhaltsames Gedankenspiel zum Solipsismus. Er geht noch weiter und zeichnet ein Bild der Hoffnungslosigkeit, der Verlassenheit und der Auswegslosigkeit unseres Sein.

Corcorans Wohnfabrik wird als groß, kalt, unbelebt und düster beschrieben. Darin stehen die verlorenen Kisten. Und die Geschöpfe sind vollständig den Launen ihres Schöpfers, des reizbaren Professors, ausgeliefert.

Corcorans Welt ist bloß eine von vielen Kurzgeschichten in diesem Stil. Die Sterntagebücher umfassen fast 500 Seiten und wer Spaß an freundlich erzählten aber dennoch skurrilen und nachdenklich stimmenden Geschichten hat, dem können die Sterntagebücher nur wärmstens empfohlen werden.

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Letzte Änderung: 5. Oktober 2003